Titel
Berlin 1800. Deutsche Großstadtkultur in der klassischen Epoche


Herausgeber
Berghahn, Cord-Friedrich; Wiedemann, Conrad
Reihe
Berliner Klassik. Eine Großstadtkultur um 1800
Erschienen
Hannover 2019: Wehrhahn Verlag
Anzahl Seiten
416 S., 34 Abb.
Preis
€ 34,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Laurenz Demps, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Es ist der 24. und letzte Band der Reihe „Berliner Klassik. Eine Großstadtkultur um 1800“. Dieses langfristige, seit 2003 laufende Unternehmen wird in seiner Arbeit nicht fortgeführt. Das ist bedauerlich, denn es bleibt ein „riesiges Forschungsfragment“ (S. 9) zurück. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, als spiegelt sich in Teilen des Werkes diese Trauer wider, obwohl es wohl insgesamt als Resümee verstanden werden soll. Das zeigt sich insbesondere in dem Beitrag von Claudia Sedlarz (Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften), der auf den Seiten 381–407 unter dem Titel „Berliner Klassik: Quellenforschung, Publikationen, Tagungen (Stand Dezember 2016)“ eine Auflistung der erschlossenen Quellenbestände, Publikationen, Vorträge, Tagungen und Medienberichte“ des Unternehmens vorlegt.

Doch zurück zum Anliegen der langfristigen Forschungsarbeit. In dem schwergewichtigen Einleitungsartikel von Conrad Wiedemann (zuletzt TU Berlin) wird die Genesis des Unternehmens nochmals beschrieben, nachdem er und Cord-Friedrich Berghahn (TU Braunschweig) in einem starken Vorwort diese an der „interdisziplinären Arbeitsgruppe“ der deutschen Akademien der Wissenschaften beschrieben haben. Bereits hier steht die klare Aussage „Diese These besagt, dass die deutsche Kulturblüte um 1800 nicht einen, sondern zwei herausragende, wenn auch der Erscheinungsform nach sehr unterschiedliche Verdichtungspunkte besaß, nämlich Weimar und Berlin“ (S. 9). Dem kann und muss voll zugestimmt werden, und das ist auch das wichtigste Ergebnis der Langzeituntersuchung. Das rechtfertigt den gesamten Aufwand, beschreibt doch die historische Publizistik das Berlin dieser Jahre gern und undifferenziert als den größten Parade- und Exerzierplatz Preußens. Hier nun die andere Erkenntnis, der kulturelle Rang Berlins, und es bietet sich an, dieses Moment stärker in das Bewusstsein der Öffentlichkeit zu rücken und es wäre denkbar, dass die zwei Momente die Geschicke der Stadt bestimmten.

Im Vorwort wird betont, dass alle Autoren „thematische und methodische Freiheit(en)“ nutzen konnten und ihnen in der Wahl der Themen keine Vorschriften gemacht wurden, sondern dass es um die Erforschung von bisher Unbekanntem ging. Wiedemann hebt – stellvertretend – dabei die Arbeiten von Günther de Bruyn besonders hervor. Das sollte doch angemerkt werden, obwohl dieser in dem Band nicht vertreten ist. Entsprechend der Arbeitsthese befassten sich die weiteren Beiträge mit der Architekturästhetik, dem Geist der Zivilgesellschaft, der Antikenrezeptikon in Berlin, Heinrich von Kleist, Theodor Mundt, Goethe und Iffland, E.T.A. Hoffmann, der damaligen Zeitgeschichtsschreibung sowie Berliner Vereinen. Alles macht in der Zusammenstellung einen eher zufälligen Eindruck. Sie folgen so der oben skizzierten Herangehensweise. Die Beiträge sind unterschiedlicher Natur.

Einige Beiträge folgen dem Charakter einer Gesamt- und Rückschau und stellen sich aber als wertvolle Beiträge zum Gesamtverständnis des Vorhabens heraus. So der Beitrag von Ute Motschmann, die nach dem Katalog der Berliner Vereine hier eine Typisierung zu den Vereinen vorlegt.1 Sehr anregend ist der Beitrag von Uta Gerhardt über „Die langen Schatten der Berliner Klassik“. Sie erinnert an Georg Simmel und seinen Vortrag über das Geistesleben der Großstädte. Einen heute eher vergessenen Ansatz, dem man eine Wiederbetrachtung wünscht. Sie weist auf die Langzeitwirkung seiner Gedanken hin, der wohl erst heute zum Horizont des modernen Staates Bundesrepublik geworden sind (S. 104). Weniger geglückt ist dagegen der Aufsatz von Günter Oesterle über Theodor Mundt. Nicht etwa wegen der getroffenen Aussagen, sondern wegen der Person ihres Helden. Wir wissen viel über Mundt, aus dessen Feder eine Schilderung der Ereignisse des März 1848 vorliegt. Erschienen – anonym – 1849 bei Brockhaus in Leipzig in der Reihe „Lexikon der Gegenwart“. Erst durch weitere Forschungen stellte sich Mundt als Verfasser heraus. Aus dem Artikel von Willi Krebs aus dem Jahre 1983 wissen wir, dass Mundt einen Nachlass hatte, den die Universitätsbibliothek der Humboldt-Universität bewahrte.2 Der wurde auch bei Sedlarz in dem gründlichen Verzeichnis der benutzten Archive nicht aufgeführt. Es bleibt die Frage, gibt dieser Nachlass Auskünfte zu dem Thema?

Besondere Aufmerksamkeit verlangt der Artikel von Dieter Simon über Heinrich von Kleist. Er bezeichnet Kleist als Probierstein und begibt sich dann mutig in den Bereich des Rechts und stellt Fragen an die Texte des Zerbrochenen Krugs, Michael Kohlhaas und Prinz von Homburg unter dem Aspekt der Rechtsauffassung von Kleist. Seinen Aussagen kann und muss man zustimmen. Werner Buschs Aufsatz über die Zeichnungen von Schadow, d. h, über die Anregungen und Quellen aus denen der Meister schöpfte, verdient ebenfalls besondere Aufmerksamkeit. Zwar gibt es mehrere Publikationen zu dem Thema, aber die Anregungen für die Zeichnungen werden hier beleuchtet. Der Beitrag von Matthias Hahn über den Architekten Louis Catel ist besonders beachtenswert. Eigentlich ist er kein Unbekannter, aber man weiß nicht sehr viel über Leben und Werk. Auch hier schwingt der Abschiedscharakter des Bandes mit, aber der Autor fasst nicht nur den Forschungsstand zusammen, sondern gibt in seinem Literaturbericht eine Zusammenfassung der Forschungsergebnisse und erweitert unser Wissen auch über die unternehmerische Seite des Architekten. Wie ein Aufschrei und eine Kampfansage wirkt die Einleitung von Jürgen Trabant zu seinem Aufsatz „Der fremde Mund. Gespräche in der großen Stadt…“: „Es gilt hier vor allem, das Berlinische an diesem Projekte weiter herauszuarbeiten: die Großstadt-Kultur, das Urbane.“ (S. 93) Dem ist zu folgen.

Nicht jedem außerhalb der Literaturwissenschaften werden sich alle Aufsätze erschließen. Der ganze Reichtum des Bandes ist unerschöpflich, man braucht schon eine gewisse Zeit, um einen Überblick zu gewinnen, aber es lohnt sich, allerdings weniger für Laien.

Natürlich bleiben Weimar seine Größen und Heroen, aber man muss bedenken, dass alle Größen – ob Weimar oder Berlin – überwiegend noch nicht von den Ergebnissen ihrer Gedankenarbeit leben konnten. Denken wir bei Weimar nur an Schiller, der eine Professur in Jena bekam. Bei seiner Antrittsvorlesung „Wozu und zu welchem Ende, studiert man Universalgeschichte?“ war der Saal überfüllt, man musste in einen größeren ausweichen, bei der letzten Vorlesung soll es keine Besucher mehr gegeben haben. War da nicht eventuell doch die Sensationslust Triebfeder und las man doch dann lieber wieder Vulpius, der auch in Weimar lebte. Anders in Berlin, hier gab es bei einer Einwohnerzahl von fast 200.000 Bewohnern zwei Zeitungen und die Buchproduktion war hoch. Allein zwischen 1790 und 1795 erschienen 780 Titel, davon 128 auf dem Gebiet der Mathematik und 91 waren Titel aus dem Literaturbetrieb. Es wird wohl auch Leser dieser Werke in Berlin gegeben haben, und die Universität Unter den Linden entstand 1810 wohl auch nicht aus dem Nichts. Die Kontakte zwischen Weimar und Berlin wurden insgesamt nicht vergessen. Erinnert sei an den Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter. Aber auch in der Architektur gab es mehr als Berührungen. Denken wir nur an die großartige Treppe im Schloss in Weimar von Heinrich Gentz, der ein Freund Goethes war. Berlin war also ein Spiegelbild des preußischen Staates mit Militär und Geist.

Insgesamt eine sehr anregende Lektüre und es müssen auch die Ergebnisse der vorhergehenden 23 Bände mit einbezogen werden. Alles erinnert ein wenig an Martin Greiffenhagen, der für die Ausstellung der Akademie der Künste (Westberlin) 1981 Ähnliches für Preußen verursachte und Erfolg damit hatte. Er hielt eine Einschätzung fest: „Geschichte wird nicht nur von Männern, Völkern und Klassen gemacht, sondern auch von Historikern und Gedächtnisausstellungen“.3 Ein Register erschließt die Beiträge über die Namen. Insgesamt stimmt das Ende dieser Forschungen traurig, denn das Studium der Beiträge in den verschiedenen Bänden war immer anregend. Man kann der Hoffnung Ausdruck verleihen, dass die zentralen Ergebnisse dieser Untersuchung sich auch in der historischen Publizistik niederschlagen werden.

Anmerkungen:
1 Uta Motschmann (Hrsg.), Handbuch der Berliner Vereine und Gesellschaften 1786–1815, Berlin 2015; dies. (Hrsg.), Handbuch der Berliner Vereine und Gesellschaften 1786–1815, Supplement: Satzungen und programmatische Schriften, Berlin 2016.
2 Willi Krebs, Theodor Mundt, in: Werner Radig (Hrsg.), Alte Dorfkerne in Berlin und andere Beiträge, Berlin 1983, S. 86–96.
3 Martin Greiffenhagen, Zwei Seelen in der Brust? Zur politischen Kultur Preußens zwischen 1789 und 1848, in: Berlin zwischen 1789 und 1848. Facetten einer Epoche. Ausstellung und Katalog (Akademie-Katalog, Bd. 132), Berlin 1981, S. 7–15, hier S. 7.

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